So sieht es aus
Tarifbindung aufgrund von Überregulierung weiter rückläufig
Auch im Einzelhandel ist die Tarifbindung – wie in vielen anderen Branchen auch – seit Jahren leicht rückläufig. Hintergrund ist vor allem die überbordende Regulierung der Arbeitsbeziehungen im vergangenen Jahrzehnt. Nach den aktuellen Jahreszahlen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) belief sich der Anteil der Beschäftigten im Einzelhandel bei einem tarifgebundenen Arbeitgeber (Branchen- oder Haustarifvertrag) im Jahr 2023 noch auf 23 Prozent. Im Vorjahresvergleich ist der Wert laut IAB-Umfrage um drei Prozent gesunken. Auffällig ist, dass im gleichen Umfang die Anzahl der Beschäftigten, deren Betrieb sich auf rein vertraglicher Basis an einem Flächentarifvertrag orientiert (z. B. beim Entgelt) von 56 Prozent auf 59 Prozent gestiegen ist. Auf diese Weise gelten die Branchen-und Haustarifverträge im Einzelhandel aktuell weiterhin für mehr als zwei Drittel aller Beschäftigungsverhältnisse im Einzelhandel. In der Gesamtwirtschaft waren im Jahr 2023 nach IAB-Erhebung noch 50 Prozent der Beschäftigten in einem tarifgebundenen Unternehmen tätig. Im Vorjahresvergleich entspricht dies einem leichten Rückgang (2022: 51 Prozent).
Die Herausforderung
Mehr staatlicher Zwang ist das falsche Signal
Es ist allein Aufgabe der Sozialpartner, die Branchentarifverträge aktuellen Herausforderungen anzupassen und einen für beide Seiten tragbaren Kompromiss auszuhandeln. Eine Lockerung der gesetzlichen Voraussetzungen der Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) ist dafür keine Lösung. Die AVE stellt vielmehr einen massiven Eingriff in die Tarifautonomie und eine Einschränkung der negativen Koalitionsfreiheit nach Art. 9 Abs. 3 GG dar, die eine Ausnahme bleiben muss und überdies einer besonderen Rechtfertigung bedarf. Weniger als ein Prozent aller Tarifverträge sind allgemeinverbindlich.
Zeit zum Handeln
Politik muss Gestaltungsspielräume für mehr Tarifbindung schaffen
Mehr staatliche Einflussnahme schadet der Tarifbindung in Deutschland massiv. Das gilt vor allem für rein politisch motivierte Anhebungen des Mindestlohnes per Gesetz im zeitlichen Kontext von Bundestagswahlen ohne Beteiligung der unabhängigen und paritätisch besetzten Mindestlohnkommission.
Die Arbeitsweise der Mindestlohnkommission hat sich ebenso bewährt wie die grundsätzliche Orientierung des Mindestlohns an der nachlaufenden Tariflohnentwicklung. Eine Änderung des Anpassungsmechanismus würde diesen Erfolg nachhaltig gefährden und tief in die Tarifautonomie eingreifen. Der gesetzliche Mindestlohn darf unter keinen Umständen zum Spielball der Politik werden.
Der HDE hat bereits in der Vergangenheit konstruktive Vorschläge gemacht, wie sich die Tarifbindung in der Wirtschaft wieder effektiv steigern lässt, ohne dabei die Tarifautonomie unverhältnismäßig zu beschädigen. Die Tarifpartner benötigen vor allem wieder mehr Gestaltungsspielraum. Dies setzt zum einen voraus, dass nicht immer mehr traditionelle Tarifvertragsinhalte durch Gesetz abschließend geregelt werden. Zum anderen müssen den Tarifvertragsparteien durch zusätzliche Öffnungsklauseln im Gesetz neue Gestaltungsspielräume eröffnet werden. Die Tarifpartner könnten die Tarifbindung dann durch attraktive praxisnahe Tarifangebote, die den Unternehmen einen echten Mehrwert bieten, steigern. Sinnvoll wäre auch die Modularität von Tarifverträgen, bei der sich nicht tarifgebundene Arbeitgeber für einzelne Module (z. B. Entgelt) aus einem Tarifwerk entscheiden dürfen. Dadurch wird die Schwelle zur Tarifbindung abgesenkt. Erforderlich ist auch eine Stärkung der Unternehmensindividualisierung durch mehr Öffnungsklauseln in den Tarifverträgen selbst.
Die öffentliche Auftragsvergabe des Bundes im Wege eines sog. „Tariftreuegesetzes“ an die Tarifvertragsbindung zu koppeln, lehnt der HDE strikt ab. Dabei handelt es sich um Tarifzwang durch die „Hintertür“. Zumal ein solches Vorhaben das selbst gesetzte Ziel gänzlich verfehlen und kein Unternehmen nur deshalb eine Tarifbindung eingehen würde. Stattdessen entstünden an öffentlichen Aufträgen interessierten Unternehmen vor allem unnötige und bürokratische Hürden sowie Kosten.
Steven Haarke
Geschäftsführer Arbeit, Bildung, Sozial- und Tarifpolitik
E-Mail: haarke@hde.de